Verlassensangst - von Sascha

VerlassensAngst oder die Angst, mich auf meinen Partner zu verlassen

von Sascha 

 „Verlass mich nicht!“ klingt wie die unromantische Entgegnung auf Vergissmeinnicht, die sagenumwobene Waldpflanze, die einst ein Ritter für seine Liebste gepflückt haben soll und dabei in ein Gewässer fiel. Bevor ihn die Rüstung in die Finsternis des Wassers zog, warf er seiner Holden die Blumen zu und rief: „Vergissmeinnicht!“ Ob die junge Dame in diesem Augenblick „Verlass mich nicht!“ gedacht oder gerufen hat, ist allerdings nicht überliefert.

 

„Verlass mich nicht! – Bitte verlass mich nicht!“  Es ist weit gekommen mit mir: Ich beginne Selbstgespräche zu führen, laut und deutlich vernehmbar für meine Nachbarin, die zufällig ihre Blumen gießt, während ich mich sinnierend durch den Garten bewege.  Mein laut vorgetragener innerer Monolog mahnt mich, etwas zu tun, das ich schon lange hätte tun sollen – genauer gesagt einige gescheiterte Beziehungen eher: Mich meiner großen Angst stellen, der Verlassensangst – in der Psychologie häufig auch als Verlustangst bezeichnet. „Verlass’ mich nicht! Bitte, verlass mich nicht.“ Ich sagte diese Worte vor mich hin, ohne, dass die Adressatin sie hören konnte. Sie dienten eher einer Autosuggestion. Religiöse Menschen würden von einem Stoß-Gebet sprechen. Das Happy-End nehme ich zur Beruhigung vorweg: Diese Szene liegt eine Weile zurück, es war eine Zeit der Unsicherheit und die Frau, die ich damals meinte, werde ich bald heiraten. Ich könnte also Entwarnung vermelden, was die Verlassensangst angeht.  Wären da nicht ab und an Reste des Angstgefühls, die mir noch immer in den Knochen sitzen. 

 

Verlassensangst bleibt so gut wie nie folgenlos für eine Partnerschaft:  sie äußerst sich in Gefühlen wie Unsicherheit und Eifersucht und ruft häufig beim anderen Partner Gegengefühle wie Unsicherheit und Enttäuschung hervor. Denn wer unter Verlustangst leidet, unterstellt der Beziehung und damit indirekt dem Partner mangelnde Stabilität und Zuverlässigkeit. So ist die Verlassensangst nicht selten der Urgrund für viele Paarprobleme.

Die doppeldeutigkeit des Verlassens

Aber was hat es mit dem Begriff der Verlassens-Angst und den dahinter wohnenden Phänomenen auf sich? Das Wort Verlassen hat im Deutschen eine faszinierende Doppeldeutigkeit: Erst verlassen wir uns auf einen Menschen und später verlassen wir ihn – oder umgekehrt. Das Verlassen begleitet uns unser Leben lang vom Verlassen des Mutterleibes bis zum Sterbebett, von der Beendigung von Freundschaften bis zur Auflösung einer Liebesbeziehung. Ich möchte hier folgenden Leitfragen nachgehen:

 

1.     Woher kommt die Verlassensangst überhaupt? 

2.     Ab welchem Zeitpunkt ihrer Zweier-Beziehung verlassen sich Menschen aufeinander? 

3.     Wann ist Verlassensangst berechtigt?  

 

Jeder Mensch, der eine schöne Liebesbeziehung lebt, würde sich vor dem Verlust dieser Beziehung fürchten. Das ist eine normale Emotion. Ob sich aber die Verlassensangst in einer ungesunden, chronischen Form in uns einnistet, hat viel mit den Bindungsmustern und –erfahrungen unserer Kindheit zu tun. Elternliebe soll – so das Leitbild vieler Eltern – unerschütterlich sein und unterliegt – anders als die zwischengeschlechtliche Liebe – keinem komplizierten Bedingungsgefüge – hierzu ein sehr lesenswerter Blogbeitrag aus der Schweiz.[Quelle 1] Umso einschneidender ist es für Kinder, wenn sich diese Beziehung plötzlich doch erschütterlich zeigt, weil Eltern nicht mehr gemeinsam liebesfähig erscheinen, weil sie untereinander zerstritten sind. Meine Eltern stritten sehr häufig und lautstark und das begleitete mich als Kind viele Jahre. 

 

Ich erinnere mich einer Urlaubsfahrt im Alter von neun Jahren. Wir waren mit einer Nacht-Fähre von Genua nach Sardinien unterwegs. Meine Eltern, meine drei Jahre jüngere Schwester und ich teilten eine Kabine unter Deck. Meine Eltern gerieten in lauten Streit und verschwanden schließlich aus der Kabine. Als sie nach einer gefühlt sehr langen Weile nicht zurückkehrten, sagte ich meiner Schwester, ich würde nun nach ihnen suchen gehen. Ich hatte Angst, dass einer von beiden im Streit über Bord gehen könnte. Die Tatsache, dass wir uns auf einem fahrenden Schiff befanden, hatte meine Verlustangst auf die Spitze getrieben. Dauerhafte und laute Streitigkeiten zwischen Eltern können Verlustängste bei Kindern hervorrufen. Laut einer Studie sind Verlust- und Trennungsängste die häufigsten Angsterkrankungen bei Kindern.[Quelle 2]

 

So wie ständige Streitigkeiten kann auch eine Trennung der Eltern bei den Kindern Verlustängste auslösen. Zwar bekunden beide Eltern in der Regel gegenüber ihren Kindern, diese zu lieben, dennoch erschüttert die Trennung die Gewissheit der Kinder, beide Eltern immer und gleichzeitig für sich zu haben. Der Wunsch, die Eltern mögen sich wieder zusammenfinden, bleibt bei Kindern für lange Zeit erhalten. Allerdings kann eine stabile Beziehung des Trennungskindes zu beiden Elternteilen, in der auch die Wünsche des Kindes respektiert werden, über die Jahre das Vertrauen in die Eltern wiederherstellen und sich somit positiv auf die psychische Gesundheit der Kinder auswirken.[Vgl.Quelle 3]

 

Plötzliche Verlusterfahrungen wie Tod oder Trennung der Eltern prägen sich bei Kindern als Erfahrung eines Kontrollverlustes ein und können ein Trauma hinterlassen. Es liegt nahe, dass wir uns im späteren Erwachsenenleben gegen solche Erfahrungen vermeintlich schützen wollen. Es kann eine der Ursachen sein, warum wir uns einer Beziehung erst gar nicht stellen, aus der Angst, verletzt zu werden. Oder aber wir belasten die Beziehung, die wir eingegangen sind, mit unseren Verlassensängsten, obwohl diese Beziehung damit herzlich wenig zu tun hat. Werfen wir daher einen Blick auf die ersten Monate einer Beziehung.

 

Ab wann verlassen wir uns aufeinander?

Hier setzen zwei Prozesse gleichzeitig ein: Wir beginnen uns irgendwann zunehmend auf den neuen Partner zu verlassen. Bald schon spüren wir in einer neuen Beziehung, dass die Bekundungen des anderen, für einen einzustehen, wahr werden. Dass wir mit unseren Sorgen und Nöten und praktischen Problemen nun nicht mehr allein dastehen. Dass der neue Partner wirklich nicht nur mit Rat, sondern auch durch Taten für uns zur Verfügung steht. Dieser Prozess wird erst nach dem Ablegen der „rosaroten Brille“, der ersten Verliebtheitsphase spürbar. Stand bis dahin das Verlangen im Vordergrund, sorgt nun die Verlässlichkeit für ein Gefühl der Stabilität und Geborgenheit. Es ist der schöne Augenblick, in dem wir endgültig lernen, uns auf den anderen wirklich verlassen zu können.

Bei einem Menschen ohne chronische Verlustangst dürfte mit zunehmender Verlässlichkeit die Verlustangst kleiner werden und am Ende womöglich verschwinden. Bei Menschen mit chronischer Verlustangst ist das komplizierter – auch für die Beziehung. Denn die Liebeserfahrungen beider Partner beginnen in dem Augenblick auseinander zu driften, in dem der eine sich in einer verlässlichen Beziehung sicher angekommen fühlt, während der andere noch immer mit Verlustängsten zu kämpfen hat. Die Konstellation birgt Spannungen in sich, weil ein Partner die Verlustangst des anderen in Misstrauen umdeuten – oder sogar seinerseits misstrauisch werden könnte. So kann eine Spirale des gegenseitigen Vertrauensverlustes entstehen. Das alles ist aber händelbar. Wer sich chronisch verlustängstlich fühlt, sollte dies seinemPartner frühzeitig mitteilen, so dass dieser sich darauf einstellen kann und mögliche Reaktionen nicht zu schwernimmt. Andererseits sollte der Verlustängstliche sich immer wieder das Gute, Solide und Vertrauenserweckende der Beziehung vor Augen führen. So kann er sich klar machen, wie irrational seine Befürchtungen sind. Im besten Fall lachen beide Partner irgendwann über das Problem und machen sich höchstens lustig, wenn es noch einmal aufpoppt. Die gute Nachricht: Verlustangst ist heilbar, wenn beide Partner das ihnen Mögliche dafür tun. Die schlechte Nachricht: wer das Problem ignoriert, legt den Grundstein für die Entfremdung der Liebespartner. 

wann ist Verlassensangst berechtigt?

Der Augenblick, an dem uns die Verlassens-Angst berechtigt ereilen darf, ist der Augenblick, an dem wir ein dauerhaftes Desinteresse des Partners an unserem Leben zu spüren bekommen. Der Selbstbeobachtung in einer Beziehung kommt hier eine hohe Bedeutung zu:  Fragt er seine Partnerin noch ernsthaft, wie der Tag war? Blickt sie seinen nackten Körper bei der zufälligen Begegnung im Badezimmer noch an? Das Verlassen beginnt mit dem Verlust von alltäglicher Aufmerksamkeit und Zärtlichkeit. Und die zeigt sich in Blicken, in der Einfühlung, in beiläufigen Berührungen, bei den Worten und keineswegs in der Häufigkeit, miteinander Sex zu haben.

"Ich Kann mich auf dich verlassen."

Wenden wir uns zum Schluss der schönen Bedeutung des Wortes Verlassen zu. „Ich kann mich auf dich verlassen“, klingt etwas sperrig als Liebesbekundung, dabei gibt es wohl kein größeres Kompliment. Und dieses Kompliment ist nicht tagesformabhängig. Es ist das Kompliment, das eine Liebesbeziehung krönt. Wir alle haben an uns selbst oder an potentiellen Partnern gewiss schon Bindungsängste festgestellt. Sind diese nicht notorisch, haben sie vielleicht einfach den guten Grund, dass die andere Person nicht passt. Haben wir diese Bindungsangst nicht, sind wir damit aber nicht über die Klippe. Auf dieser Klippe schimmert der Sonnenuntergang besonders schön über das Meer. Es ist der Ort, den kein Mensch wieder verlassen möchte. An dieser Stelle müssen wir einfach mutig sein und vertrauen: auf diesen Menschen kann ich mich verlassen. Und: ich brauche keine Angst haben, dass mich ausgerechnet dieser Mensch einfach so verlässt. Es ist eine mutige Wette auf die Zukunft, die wir hier eingehen. Wir dürfen und sollten uns der Risiken bewusst sein.

Aber bitte ohne Angst!

 

 

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